Wer ist hier das Opfer?

Folgendes: ich steh am Bahngleis in Meidling und warte auf meinen Zug gen Innsbruck. Bissele müde auch, weil so früh schon aufgestanden, was ich sonst im Alltag grundsätzlich eher vermeide, Kaffee in der Hand, Sonne im Gesicht, soweit alles gut. So ein langer Zug ist das, der in Innsbruck geteilt wird und dann mit der Hälfte weiter in die Schweiz. Steh ich da also, kommt ein Typ daher. Blaue Augen, bissi Bart, Mittelgroß, Mitte Vierzig, normal. Vielleicht einen Tick auf der abgenudelten Seite kleidungstechnisch, heißt aber in meinen Augen immer nix, weil erstens schau mich oft an und zweitens grundsätzlich. Jedenfalls is er in Eile, deutet zu meinem noch leeren Gleis und fragt, ob ich den Zug nehme, der da gleich kommt. Jup, nach Innsbruck. Ah, meint er, perfekt, er muss nach Linz und ich ihm acht Euro leihen, weil er seine Ermäßigungskarte vergessen hat, direkt von der Nachtschicht kommend und alles. In Linz krieg ich die dann wieder, inklusive einem guten Kaffee. Dabei betont er das ‚guten‘ und schaut latent abschätzig aber mit Augenzwinkern auf meinen Ströck-Becher. Ich zögere keine Sekunde. Seit ich hinter der Bar stehe, hab ich auch so gut wie immer Bargeld (dā) am Start. Jetzt gut, natürlich keine acht Euro aber einen Zehner was auch geht, meint er, krieg ich später halt zehn zurück, seine Frau wird’s mir danken, die steht dann in Linz am Bahnsteig. Dann läuft er los, in zwei Minuten fährt der Zug ein, was sich ausgeht, weil dann steht er zusätzliche zwei Minuten und direkt die Treppen runter sei ein Automat, bis gleich. Der Zug kommt, ich steige ein. Nicht allerdings dort, wo ich gewartet hab, sondern weiter hinten, an der Lock vorbei im zweiten Teil. Ich hab mich noch nicht entschieden, ob ich die Geschichte von dem Typen glaube, tendiere aber dazu, rein vom Gefühl her. Also so von vorgestern bin ich ja nicht, dass ich mich nicht auskenn mit Trick siebzehn oder irgendwelchen anderen Nummern. Im Moment als er „gefragt“ hat, hab ich auch direkt berechnet, dass es wohl wahrscheinlicher ist, dass es der Kollege doch nicht in den Zug schafft, wenn man so will und trotzdem wollt ich ihm direkt aushelfen. Gut, zum einen verfolge ich das Prinzip, wenn ich mich dafür entscheide, jemandem Geld zu borgen, dann immer nur unter der Vorstellung gut damit leben zu können, es nicht wieder zurückzubekommen. Alles andere, stell ich mir vor, macht einen potentiell bitter, außerdem will ich ja auch keine Bank sein. Von daher bin ich jedenfalls auf der sicheren Seite, aber eben doch gespannt, wie das ausgeht und vor allem ob ich’s jemals herausfinden werd. Momentan bin ich schließlich im falschen Zug und sollte er tatsächlich eingestiegen sein, sucht er mich da vorne vergebens. Ich entscheide mich spontan und kurz bevor ich, so halb auf meiner Tasche liegend, fast ein bissl wegbüsel, in St. Pölten den Kopf rauszustrecken, um zu sehen, ob er das vielleicht auch tut. Hält er aber nicht lang der Zug und ich kann nix entdecken. Ich frage den Schaffner, der direkt vor mir auf der Plattform steht, wie weit der vordere Zug entfernt ist. Gleich der übernächste Wagon ist die Lok, erklärt er mir und fragt, ob ich wechseln will. Dabei schaut er auf seine Uhr, eigentlich darf er mir das gar nicht mehr vorschlagen, sondern sollt in sein Pfeiferl blasen. Ich hab meine Sachen ohnehin am Platz, sag nein danke, alles cool, is eine schräge Geschichte. Er liebt schräge Geschichten, sagt er. Ich warte also, bis er seine Arbeit getan hat (laut in eine Pfeife blasen, eigentlich auch chillige Hackn, vermutlich sieht er das genauso, ist jedenfalls schwer sympathisch und gut drauf) und einsteigt. Losschießen mit meiner Geschichte soll ich, sagt er. Ich erzähl ihm also, wie ich da steh, auf Höhe vom hinteren Teil vom vorderen Zug und so ein netter Typ daherkommt und seinen Ausweis vergessen hat. Der Schaffner nickt und lächelt, fragt mich, ob der ein bissl so ausschaut wie er selbst. Jetzt wo er’s sagt, stimmt eigentlich. Mir ist natürlich klar, was das heißt. Trotzdem hör ich mir gern die Story an, dass der Schaffner den schon seit 10 Jahren kennt und vice versa, dass er ihn, wenn er ihn sieht vertreibt oder der andere eh von selber abhaut und dass man ihm aber nie was nachweisen kann, schließlich klaut er nix und ist nicht ungut. Der lebt scheinbar davon, erklärt mir der Schaffner und dass es ihm leid tut für mich. Mir kommt vor, das sagt er ein bissl deswegen, weil man das halt so sagt. Eigentlich glaub ich, sind wir beide ein bissl Fan von dem Gschichtl-Drucker irgendwie, weil er so gut ist in dem was er tut und so authentisch. Außerdem bin ich überzeugt, dass nicht alles gelogen war und es eine Frau/Mann/Kind/Freunde gibt, die’s mir tatsächlich danken werden. Jedenfalls lachen wir viel, der Schaffner und ich und ich bin froh, mir jetzt keine Gedanken mehr machen zu müssen, wies nun wirklich gewesen ist. Wenig später kommt er mein Ticket kontrollieren und fragt nebenbei, ob ich ihm acht Euro leihen kann. Ich kichere. Dass ich meine Vorteilscard vergessen hab, lässt er charmant unter den Tisch fallen.

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